Von [73]Umberto Eco
   7. Juli 1995 Quelle: DIE ZEIT, 28/1995
   [74]Aus der ZEIT Nr. 28/1995

Urfaschismus – Seite 1

   Im Jahre 1942, ich war gerade zehn Jahre alt, errang ich in meiner
   Provinz den ersten Preis bei den Ludi Juveniles (einem erzwungen
   freiwilligen Wettbewerb für junge italienische Faschisten - also für
   jeden jungen Italiener). Ich hatte mit rhetorischem Geschick das Thema
   behandelt: "Sollen wir sterben für den Ruhm Mussolinis und die ewige
   Bestimmung Italiens?" Ich äußerte mich bejahend. Ich war ein heller
   Junge.

   Zwei Jahre lang beschossen sich um mich herum SS, Faschisten,
   Republikaner und Partisanen, und ich lernte, den Kugeln aus dem Wege zu
   gehen. Es war eine nützliche Übung. Im April 1945 übernahmen die
   Partisanen in Mailand die Macht. Zwei Tage später kamen sie auch in die
   kleine Stadt, in der ich damals lebte. Es war ein Moment
   überschäumender Freude. Der große Platz war gefüllt mit singenden und
   fahnenschwingenden Menschen, die laut nach Mimo riefen, dem
   Partisanenführer unseres Gebiets. Mimo, ein ehemaliger Maresciallo der
   Carabinieri, hatte sich den Anhängern General Badoglios angeschlossen,
   des Nachfolgers Mussolinis, und bei einem der ersten Gefechte mit
   Mussolinis verbliebenen Streitkräften hatte er ein Bein verloren. Mimo
   trat auf den Balkon des Rathauses, bleich, auf seine Krücke gestützt,
   und versuchte mit einer Hand, die Menge zur Ruhe zu bringen. Ich
   erwartete eine Rede, denn meine gesamte Kindheit war von den großen
   historischen Reden Mussolinis geprägt, deren wichtigste Passagen wir in
   der Schule hatten auswendig lernen müssen. Stille. Mimo sprach mit
   heiserer Stimme, kaum hörbar. Er sagte: "Bürger, Freunde. Nach so
   vielen schmerzlichen Opfern . . . jetzt sind wir hier. Ruhm allen, die
   für die Freiheit gefallen sind." Das war's. Er ging wieder hinein. Die
   Menge jubelte, die Partisanen erhoben ihre Gewehre und schossen zur
   Feier des Tages in die Luft. Wir Kinder beeilten uns, die Hülsen
   aufzusammeln, sehr begehrte Dinge, aber zugleich hatte ich gelernt, daß
   Redefreiheit auch Freiheit von Rhetorik bedeutet.

   Einige Tage später sah ich die ersten amerikanischen Soldaten:
   Afroamerikaner. Der erste Yankee, dem ich begegnete, war ein schwarzer
   Mann, Joseph, der mich mit den Wundern von Dick Tracy und Li'l Abner
   bekannt machte. Seine Comics hatten bunte Bilder und rochen gut. Einer
   der Offiziere (Major oder Captain Muddy) war in der Villa einer Familie
   zu Gast, deren zwei Töchter mit mir in die Schule gingen. Ich begegnete
   ihm in ihrem Garten, wo einige Damen Captain Muddy umringten und in
   stockendem Französisch auf ihn einredeten. Auch Captain Muddy konnte
   ein bißchen Französisch. Mein erstes Bild von den amerikanischen
   Befreiern war daher - nach so vielen Bleichgesichtern in Schwarzhemden
   - der Anblick eines kultivierten schwarzen Mannes in einer olivgrünen
   Uniform, der sagte: "Oui, merci beaucoup, Madame, moi aussi j'aime le
   champagne . . ." Zwar gab es leider keinen Champagner, aber Captain
   Muddy schenkte mir meinen ersten Streifen Wrigley's Spearmint, und ich
   kaute den ganzen Tag. Nachts legte ich den Klumpen in ein Glas Wasser,
   damit er auch am nächsten Tag noch frisch wäre.

   Im Mai hörten wir, der Krieg sei vorbei. Der Friede vermittelte mir ein
   eigenartiges Gefühl. Man hatte mir gesagt, Krieg ohne Ende sei für
   einen jungen Italiener normal. In den nächsten Monaten entdeckte ich,
   daß es die Resistenza nicht nur bei uns gegeben hatte, sondern in ganz
   [75]Europa. Ich lernte neue, erregende Worte wie réseau, maquis, armée
   secrète, Rote Kapelle, Warschauer Ghetto. Ich sah die ersten
   Photographien vom Holocaust und begriff seine Bedeutung, bevor ich das
   Wort zum ersten Mal hörte. Mir wurde klar, wovon man uns befreit hatte.

   In meinem Lande fragen sich manche Menschen heute, ob die Resistenza
   den Verlauf des Krieges militärisch denn wirklich beeinflußt habe. Für
   meine Generation ist diese Frage völlig irrelevant: Die moralische und
   psychologische Bedeutung der Resistenza verstanden wir sofort. Wir
   empfanden Stolz in dem Wissen, daß wir Europäer nicht passiv auf die
   Befreiung gewartet hatten. Und für die jungen Amerikaner, die mit ihrem
   Blut für die Wiederherstellung unserer Freiheit zahlten, war es auch
   nicht ohne Bedeutung, daß es jenseits der Gefechtslinien Europäer gab,
   die ihre Schulden im voraus abzahlten. In meinem Lande sagen Menschen
   heute, der Mythos der Resistenza sei eine kommunistische Lüge gewesen.
   Es stimmt, daß die Kommunisten die Resistenza ausbeuteten, als sei sie
   ihr persönliches Eigentum - sie hatten die größte Rolle in ihr
   gespielt; aber ich erinnere mich an Partisanen mit verschiedenfarbigen
   Armbinden.

   Dicht ans Radio gedrückt, lauschte ich nachts - bei geschlossenen
   Fenstern, in der Verdunkelung leuchtete einsam eine kleine Höhle um das
   Gerät - den Botschaften, die die Voice of London für die Partisanen
   ausstrahlte. Sie waren geheimnisvoll und poetisch zugleich ("Die Sonne
   geht wieder auf", "Die Rosen werden blühen"), und die meisten waren
   "messaggi per la Franchi". Jemand flüsterte mir zu, Franchi sei der
   Führer des stärksten Untergrundnetzes in Nordwestitalien, ein Mann von
   legendärer Tapferkeit. Franchi wurde mein Held. Franchi (sein
   wirklicher Name war Edgardo Sogno) war ein Monarchist, so entschieden
   antikommunistisch, daß er sich nach dem Krieg rechten Gruppen anschloß
   und angeklagt wurde, er habe sich an der Vorbereitung eines
   reaktionären Staatsstreiches beteiligt. Wen kümmert es? Sogno ist noch
   immer der Traumheld meiner Kindheit. Die Befreiung war die gemeinsame
   Tat von Menschen, die unter verschiedenen Fahnen kämpften.

   In meinem Lande sagen einige Menschen heute, der Befreiungskrieg sei
   eine tragische Zeit der Spaltung gewesen, und wir bedürften der
   nationalen Versöhnung. Die Erinnerung an diese schrecklichen Jahre
   müsse unterdrückt werden, refoulée, verdrängt. Aber aus Verdrängung
   entstehen Neurosen. Versöhnung mag Mitleid bedeuten und Respekt für
   alle, die aufrichtig ihren eigenen Krieg kämpften, aber Vergeben ist
   nicht Vergessen. Ich könnte sogar Eichmann zugestehen, daß er allen
   Ernstes an seine Mission glaubte, aber ich kann nicht sagen: "Also gut,
   komm zurück, und tu es noch mal."

Urfaschismus – Seite 2

   Wir müssen uns der Vergangenheit erinnern und entschieden bekunden, daß
   "sie" keine Chance mehr bekommen dürfen. Aber wer sind "sie"? Wenn wir
   uns der totalitären Regimes erinnern, die Europa vor dem [76]Zweiten
   Weltkrieg beherrschten, liegt es nahe zu sagen, sie könnten unter
   veränderten historischen Bedingungen wohl kaum wieder in der gleichen
   Form auftreten. Wenn Mussolinis Faschismus sich auf die Idee eines
   charismatischen Führers gründete, auf den Korporativismus, auf die
   Utopie von Roms imperialer Bestimmung, auf einen imperialistischen
   Willen zur Eroberung neuer Gebiete, auf einen übersteigerten
   Nationalismus, auf das Ideal einer ganzen Nation in Schwarzhemden, auf
   die Ablehnung der parlamentarischen Demokratie, auf den Antisemitismus
   - dann kann ich leicht einräumen, daß die italienische Alleanza
   Nazionale, hervorgegangen aus der faschi stischen Nachkriegspartei MSI
   und mit Sicherheit eine Partei des rechten Flügels, derzeit nur sehr
   wenig mit dem alten Faschismus zu tun hat. Und obwohl auch mich die
   verschiedenen naziähnlichen Bewegungen hier und da in Europa
   einschließlich Rußlands beunruhigen, werde ich ebensowenig glauben, daß
   der Nazismus in seiner ursprünglichen Form als nationale Bewegung
   wiederauferstehen könne. Dennoch: Politische Regimes können zwar
   gestürzt, Ideologien kritisiert und abgelehnt werden - aber hinter
   einem Regime und seiner Ideologie steht immer eine Art des Denkens und
   Fühlens, eine Anhäufung kultureller Gewohnheiten, obskurer Instinkte
   und unauslotbarer Triebe.

   Sprachgewohnheiten bieten häufig wichtige Hinweise auf zugrundeliegende
   Gefühle. Deshalb lohnt die Frage, warum nicht nur die Resistenza,
   sondern auch der Zweite Weltkrieg überall ganz allgemein als Kampf
   gegen den [77]Faschismus definiert wurde. Blickt man wieder einmal in
   Hemingways "Wem die Stunde schlägt", so entdeckt man, daß Robert Jordan
   seine Feinde mit den Faschisten identifiziert, selbst wenn er die
   spanischen Falangisten im Sinn hat. Und Franklin Delano Roosevelt sieht
   im "Sieg des amerikanischen Volkes und seiner Alliierten einen Sieg
   über den Faschismus und das Erbe des Despotismus, den er vertritt".
   Während des Zweiten Weltkriegs galten die Amerikaner, die im Spanischen
   Bürgerkrieg gekämpft hatten, als "vorzeitige Antifaschisten" - soll
   heißen, daß in den vierziger Jahren der Kampf gegen Hitler für jeden
   guten Amerikaner eine moralische Pflicht war, aber der verfrühte Kampf
   gegen Franco in den Dreißigern hatte einen unguten Beigeschmack, weil
   er in erster Linie von Kommunisten und anderen Linken geführt wurde . .
   . Warum benutzten amerikanische Radikale dreißig Jahre später einen
   Ausdruck wie Faschistenschwein für Polizisten, die ihre
   Rauchgewohnheiten mißbilligten? Warum sagten sie nicht:
   Cagoulardschwein, Falangistenschwein, Ustaschaschwein, Quislingschwein,
   Nazischwein?

   "Mein Kampf" ist ein Manifest mit einem umfassenden politischen
   Programm. Der Nazismus besaß eine Theorie des Rassismus und der
   Überlegenheit der Arier, eine klare Vorstellung von entarteter Kunst,
   eine Philosophie vom Willen zur

   Macht und vom Übermenschen. Der Nazismus war entschieden antichristlich
   und neuheidnisch, während Stalins Diamat (die offizielle Version des
   sowjetischen Marxismus) offen materialistisch und atheistisch war.
   Versteht man unter Totalitarismus ein Regime, das jeden Akt des
   Individuums dem Staat und seiner Ideologie unterwirft, dann waren
   sowohl der Nazismus wie der Stalinismus wirklich totalitäre Regimes.

   Der italienische Faschismus war mit Sicherheit eine Diktatur, aber er
   war nicht durchgehend totalitär - nicht weil er so milde gewesen wäre,
   sondern eher aufgrund der philosophischen Schwäche seiner Ideologie. Im
   Gegensatz zu einer weitverbreiteten Ansicht verfügte der Faschismus in
   [78]Italien über keine besondere Philosophie. Den mit Mussolini
   unterzeichneten Artikel "Faschismus" in der Encyclopedia Treccani hatte
   Giovanni Gentile geschrieben oder weitgehend inspiriert, und er verriet
   eine späthegelianische Vorstellung vom absoluten und ethischen Staat,
   die Mussolini niemals vollständig bewußt wurde. Mussolini besaß
   keinerlei Philosophie, sondern lediglich Rhetorik.

   Zu Anfang war er ein militanter Atheist, später unterzeichnete er die
   Lateranverträge und ließ die faschistischen Banner von Bischöfen
   segnen. In seinen frühen antiklerikalen Jahren soll er nach einer
   glaubwürdigen Legende Gott aufgefordert haben, er solle ihn auf der
   Stelle niederstrecken, wenn er seine Existenz beweisen wolle. Später
   berief sich Mussolini in seinen Reden ständig auf Gott und störte sich
   nicht daran, wenn man ihn als den Mann der Vorsehung bezeichnete. Der
   italienische Faschismus war die erste rechtsgerichtete Diktatur in
   einem europäischen Land, und für alle späteren derartigen Bewegungen
   bildete Mussolinis Regime eine Art Archetypus. Der italienische
   Faschismus führte als erster eine militärische Liturgie ein, eine
   Folklore, sogar eine Art, sich zu kleiden - mit ihren schwarzen Hemden
   weit einflußreicher, als Armani, Benetton oder Versace jemals werden
   sollten. Erst in den Dreißigern entstanden die faschistischen
   Bewegungen überall, mit Mosley in Großbritannien, in Lettland, Estland,
   Litauen, Polen, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Griechenland, Jugoslawien,
   Spanien, Portugal, Norwegen und sogar in Südamerika.

   Dennoch scheint mir die historische Priorität kein ausreichender Grund
   für die Erklärung, warum das Wort Faschismus zu einer Synekdoche wurde,
   zu einem Wort, das sich für unterschiedliche totalitäre Bewegungen
   verwenden ließ. Der Grund ist nicht etwa, daß der Faschismus in sich,
   sozusagen in seiner Quintessenz, sämtliche Elemente aller späteren
   Formen des Totalitarismus enthielt. Im Gegenteil: Der Faschismus
   verfügte über keinerlei Quintessenz. Der Faschismus war ein
   verschwommener Totalitarismus, eine Collage aus verschiedenen
   philosophischen und politischen Gedanken, ein Bienenkorb an
   Widersprüchen. Kann man sich eine wirklich totalitäre Bewegung
   vorstellen, die die Monarchie mit der Revolution hätte vereinen können,
   die Königliche Armee mit Mussolinis persönlichen Milizen, Privilegien
   für die Kirche mit einer staatlichen Erziehung, die Gewalt predigte,
   absolute staatliche Kontrolle mit einem freien Markt?

Urfaschismus – Seite 3

   Nehmen wir den Futurismus. Man könnte denken, er wäre als Beispiel
   entarteter Kunst beurteilt worden, zusammen mit Expressionismus,
   Kubismus und Surrealismus. Aber die frühen italienischen Futuristen
   waren Nationalisten; aus ästhetischen Gründen befürworteten sie
   Italiens Eintritt in den Ersten Weltkrieg; sie feierten
   Geschwindigkeit, Gewalt und Risiko, und all das ließ sich anscheinend
   irgendwie mit dem faschistischen Jugendkult vereinen. Während sich der
   Faschismus mit dem römischen Imperium identifizierte und ländliche
   Traditionen ausgrub, wurde Marinetti (der verkündete, ein Auto sei
   schöner als die Nike von Samothrake, und der sogar dem Mondschein den
   Garaus machen wollte) zum Mitglied der Italienischen Akademie ernannt,
   die dem Mondschein mit größter Hochachtung begegnete.

   Das bedeutete nicht, daß der italienische Faschismus tolerant war.
   Gramsci wurde bis zu seinem Tode eingekerkert; die Oppositionsführer
   Giacomo Matteotti und die Brüder Rosselli wurden ermordet; der
   Pressefreiheit wurde ein Ende gemacht, die Gewerkschaften wurden
   aufgelöst und politisch Andersdenkende auf entlegene Inseln verbannt.
   Die Legislative verkam zu einer bloßen Fiktion; die Exekutive (die die
   Rechtsprechung ebenso kontrollierte wie die Massenmedien) erließ
   eigenständig neue Gesetze, darunter die Gesetze zur Rassereinheit (die
   formale italienische Unterstützungsgeste für das, was später der
   Holocaust wurde).

   Es gab nur einen Nazismus. Das faschistische Spiel jedoch läßt sich
   nach vielen Regeln spielen, und der Name des Spiels ändert sich dabei
   nicht. Die Idee des Faschismus ist Wittgensteins Vorstellung von einem
   Spiel nicht unähnlich. Ein Spiel kann ein Wettbewerb sein oder auch
   nicht, es kann einen oder mehrere Menschen interessieren, es kann
   besondere Fertigkeiten voraussetzen oder gar keine, Geld kann im Spiel
   sein oder nicht. Spiele sind unterschiedliche Tätigkeiten, die nur eine
   gewisse "Familienähnlichkeit" aufweisen, wie es Wittgenstein
   ausdrückte.

   Betrachten wir die folgende Reihe: 1 2 3 4 abc bcd cde def. Nehmen wir
   an, in einer Reihe politischer Gruppen sei Gruppe eins gekennzeichnet
   durch die Merkmale abc, Gruppe zwei durch die Merkmale bcd und so
   weiter. Gruppe zwei ähnelt Gruppe eins, weil beiden zwei Merkmale
   gemeinsam sind; aus den gleichen Gründen ähnelt Gruppe drei Gruppe zwei
   und Gruppe vier Gruppe drei. Man beachte, daß Gruppe drei auch Gruppe
   eins ähnlich ist (sie haben c gemein).

   Den eigenartigsten Fall bildet Gruppe vier, die offensichtlich den
   Gruppen drei und zwei ähnelt, mit Gruppe eins jedoch kein einziges
   Merkmal teilt. Aber aufgrund der kontinuierlichen Reihung abnehmender
   Ähnlichkeiten zwischen Gruppe eins und Gruppe vier bleibt durch eine
   Art illusorischer Transitivität eine Familienähnlichkeit zwischen den
   Gruppen vier und eins erhalten. Der Faschismus ließ sich als
   Bezeichnung für die unterschiedlichsten Zwecke verwenden, weil ein
   faschistisches Regime auch dann noch als faschistisch kenntlich bleibt,
   wenn man ihm ein oder mehrere Merkmale nimmt.

   Ziehen wir vom Faschismus den Imperialismus ab, so haben wir noch immer
   Franco und Salazar. Nehmen wir den Kolonialismus fort, so bleibt uns
   noch immer der Balkanfaschismus der Ustaschi. Fügen wir dem
   italienischen Faschismus einen radikalen Antikapitalismus hinzu (der
   auf Mussolini nie besonders reizvoll wirkte), dann haben wir Ezra
   Pound. Geben wir einen Kult um keltische Mythologie und die Gralsmystik
   hinzu (dem offiziellen Faschismus vollständig fremd), dann steht vor
   uns einer der angesehensten faschistischen Gurus, Julius Evola. Aber
   trotz dieser Verschwommenheit halte ich es für möglich, eine Liste von
   Merkmalen aufzustellen, die typisch wären für das Gebilde, das ich als
   Urfaschismus oder ewigen Faschismus bezeichnen möchte.

   Diese Merkmale lassen sich nicht zu einem System organisieren; viele
   von ihnen widersprechen einander und lassen sich außerdem auch anderen
   Formen des Despotismus oder Fanatismus zuordnen. Aber jedes einzelne
   von ihnen kann zum Kristallisationspunkt für den Faschismus werden.

Urfaschismus – Seite 4

   1. Das erste Merkmal des Urfaschismus ist der Traditionskult.
   Traditionalismus ist natürlich viel älter als der Faschismus. Er war
   nicht nur typisch für das konterrevolutionäre katholische Denken nach
   der Französischen Revolution, sondern entstand schon im hellenistischen
   Synkretismus als Reaktion auf den griechischen Rationalismus der
   Klassik. Synkretismus ist nicht nur, wie es im Wörterbuch heißt, "die
   Vermischung verschiedener Religionen, Konfessionen oder philosophischer
   Lehren". Eine jede der ursprünglichen Botschaften enthält einen
   Splitter der Weisheit, und wenn sie auch unterschiedliche oder
   unvereinbare Dinge verkünden mögen, so beziehen sie sich doch sämtlich
   auf die gleiche ursprüngliche Wahrheit. Es kann daher keinen
   Fortschritt der Erkenntnis geben. Die Wahrheit ist ein für allemal
   verlautbart, und uns bleibt nur, ihre unverständliche Bedeutung zu
   interpretieren.

   Die Nazi-Gnosis nährte sich aus traditionalistischen, synkretistischen,
   okkulten Elementen. Der einflußreichste Urheber der Theorien der neuen
   italienischen Rechten, Julius Evola, verschmolz den Heiligen Gral mit
   den Protokollen der Weisen von Zion, Alchemie mit dem Heiligen
   Römischen Reich Deutscher Nation. Daß die italienische Rechte vor
   kurzem ihren Kanon um Werke von De Maistre, Guenon und Gramsci
   bereicherte, um ihre Offenheit zu demonstrieren, ist ein Beleg des
   Synkretismus. Wenn man in amerikanischen Buchhandlungen in den Regalen
   mit dem Etikett New Age herumstöbert, findet man dort sogar den
   heiligen Augustin, der nach meiner Kenntnis kein Faschist war. Aber der
   heilige Augustin in Verbindung mit Stonehenge - da springt uns ein
   Symptom des Urfaschismus ins Auge.

   2. Traditionalismus impliziert die Ablehnung der Moderne. Sowohl
   Faschisten als auch Nazis verehrten die Technologie, während
   traditionalistische Denker sie gewöhnlich als Negation traditioneller
   geistiger Werte ablehnen. Aber obwohl der Nazismus auf seine
   industriellen Leistungen stolz war, lag sein Modernismus nur an der
   Oberfläche einer Ideologie, die sich auf Blut und Boden gründete. Die
   Ablehnung der modernen Welt tarnte sich als Ablehnung kapitalistischer
   Lebensweise, aber in erster Linie ging es um die Ablehnung des Geistes
   von 1789. Die Aufklärung, das

   Zeitalter der Vernunft, gilt als Beginn moderner Entartung. In diesem
   Sinne läßt sich Urfaschismus als Traditionalismus definieren.

   3. Irrationalismus ist auch abhängig vom Kult der Aktion um der Aktion
   willen. Eine in sich schöne Aktion muß vor dem Denken erfolgen oder
   ganz ohne Denken. Denken ist eine Form der Kastration. Daher wird
   Kultur verdächtig, sobald sie mit kritischen Einstellungen
   identifiziert wird. Mißtrauen gegenüber der Welt des Intellekts war
   immer ein Symptom des Urfaschismus.

   4. Kein synkretistischer Glaube kann analytischer Kritik widerstehen.
   Der kritische Geist macht Unterscheidungen. In der modernen Kultur lobt
   die Wissenschaft mangelnde Übereinstimmung als nützlich für die
   Bereicherung des Wissens. Für den Urfaschismus ist fehlende
   Übereinstimmung Verrat.

   5. Zudem sind Meinungsverschiedenheiten ein Anzeichen der Vielfalt. Der
   Urfaschismus wächst und sucht Unterstützung, indem er die natürliche
   Angst vor Unterschieden ausbeutet und verschärft. Der erste Appell
   einer faschistischen oder vorfaschistischen Bewegung richtet sich gegen
   Eindringlinge. So ist der Urfaschismus qua Definition rassistisch.

Urfaschismus – Seite 5

   6. Der Urfaschismus entstand aus individueller oder sozialer
   Frustration. Deshalb gehörte zu den typischen Merkmalen des
   historischen Faschismus der Appell an eine frustrierte Mittelklasse,
   eine Klasse, die unter einer ökonomischen Krise oder der Empfindung
   politischer Demütigung litt und sich vor dem Druck sozialer Gruppen von
   unten fürchtete. In unserer Zeit, da die alten "Proletarier" zu
   Kleinbürgern werden (und die Lumpenproletarier von der politischen
   Szene weitgehend ausgeschlossen sind), wird der Faschismus von morgen
   sein Publikum in dieser neuen Mehrheit finden.

   7. Den Menschen, die sich einer ausgeprägten sozialen Identität beraubt
   fühlen, spricht der Urfaschismus als einziges Privileg das häufigste
   zu: im selben Land geboren zu sein. Dies ist der Ursprung des
   Nationalismus. Außerdem bezieht eine Nation ihre Identität nur aus
   ihren Feinden. Daher liegt an der Wurzel der urfaschistischen
   Psychologie die Obsession einer Verschwörung, am besten einer
   internationalen Verschwörung. Die Anhänger müssen sich belagert fühlen.
   Am leichtesten läßt sich dieser Verschwörung mit einem Appell an den
   Fremdenhaß begegnen.

   8. Die Anhänger müssen sich vom offensichtlichen Reichtum und der Macht
   ihrer Feinde gedemütigt fühlen. Als ich ein Junge war, lehrte man mich,
   an die Engländer als das Volk mit den fünf Mahlzeiten zu denken. Sie
   aßen häufiger als die armen, aber nüchternen Italiener. Juden sind
   reich und helfen einander über ein geheimes Netz gegenseitiger
   Unterstützung. Aber die Anhänger müssen auch überzeugt sein, daß sie
   ihre Feinde besiegen können. Daher, durch ständige Verlagerung des
   rhetorischen Brennpunkts, sind die Feinde gleichzeitig zu stark und zu
   schwach. Faschistische Regierungen sind dazu verurteilt, Kriege zu
   verlieren, weil sie konstitutiv unfähig sind, die Stärke des Feindes
   richtig einzuschätzen.

   9. Im Urfaschismus gibt es keinen Kampf ums Überleben - das Leben ist
   nur um des Kampfes willen da. Pazifismus ist daher Kollaboration mit
   dem Feind. Er ist schlecht, weil das Leben ein ständiger Kampf ist. Das
   jedoch führt zu einem Armageddon-Komplex. Da die Feinde besiegt werden
   müssen, ist auch eine Entscheidungsschlacht erforderlich, und danach
   wird die Bewegung die Weltherrschaft antreten. Aber eine solche
   "Endlösung" impliziert auch wieder eine Friedensära, ein neues Goldenes
   Zeitalter, was dem Prinzip des ständigen Krieges widerspricht. Keinem
   faschistischen Führer ist jemals die Lösung dieses Problems gelungen.

   10. Elitedenken ist ein typischer Aspekt jeder reaktionären Ideologie,
   insoweit sie im Grunde aristokratisch ist, und aristokratisches und
   militaristisches Elitedenken hat eine grausame Verachtung des
   Schwächeren im Gefolge. Der Urfaschismus kann nur ein allgemeines
   Eliteempfinden vertreten. Jeder Bürger gehört dem besten Volke der Welt
   an, die besten Bürger sind die Mitglieder der Partei, jeder Bürger kann
   (oder sollte) der Partei beitreten. Aber ohne Plebejer keine Patrizier.
   Der Führer weiß, daß seine Macht ihm nicht demokratisch übertragen,
   sondern gewaltsam erobert wurde, und ihm ist ebenso klar, daß seine
   Kraft in der Schwäche der Massen wurzelt; sie sind so schwach, daß sie
   einen Führer brauchen und verdienen. Da die Gruppe hierarchisch
   organisiert ist (dem militärischen Modell nachempfunden), verachtet
   jeder Unterführer seine Untergebenen, und jeder von diesen verachtet
   die ihm Untergebenen. Das verstärkt das massenhafte Elitebewußtsein.

   11. In einer solchen Perspektive werden alle zum Heldentum erzogen. In
   jeder Mythologie ist der Held ein außergewöhnliches Wesen, aber in der
   urfaschistischen Ideologie ist Heldentum die Norm. Dieser Kult des
   Heldentums hängt aufs engste mit dem Todeskult zusammen. Es war kein
   Zufall, daß ein Motto der Falangisten lautete: "Viva la Muerte". In
   nichtfaschistischen Gesellschaften gilt der Tod als eine unangenehme
   Erscheinung, der man mit Würde begegnen soll; dem Gläubigen ist er der
   schmerzhafte Weg zu jenseitigem Glück. Im Gegensatz dazu sucht der
   urfaschistische Held den heroischen Tod als beste Belohnung für ein
   heldisches Leben. Der urfaschistische Held erwartet den Tod mit
   Ungeduld. In seiner Ungeduld schickt er allerdings gern andere in den
   Tod.

   12. Da sowohl endloser Krieg als auch Heroismus recht schwierige Spiele
   sind, überträgt der Urfaschist seinen Willen zur Macht auf die
   Sexualität. Hier liegt der Ursprung des machismo (zu dem
   Frauenverachtung ebenso gehört wie gewalttätige Intoleranz gegenüber
   ungewöhnlichen Sexualgewohnheiten, von der Keuschheit bis zur
   Homosexualität). Da auch die Sexualität ein schwieriges Spiel ist,
   neigt der Urfaschist zum Spiel mit Waffen - das wird zu einer
   phallischen Ersatzübung.

Urfaschismus – Seite 6

   13. Der Urfaschismus gründet sich auf einen selektiven Populismus,
   einen sozusagen qualitativen Populismus. In einer [79]Demokratie haben
   die Bürger individuelle Rechte, aber in ihrer Gesamtheit besitzen sie
   politischen Einfluß nur unter einem quantitativen Gesichtspunkt - man
   folgt den Entscheidungen der Mehrheit. Für den Urfaschismus jedoch
   haben Individuen als Individuen keinerlei Rechte, das Volk dagegen wird
   als eine Qualität begriffen, als monolithische Einheit, die den Willen
   aller zum Ausdruck bringt. Da eine große Menschenmenge keinen
   gemeinsamen Willen besitzen kann, präsentiert sich der Führer als
   Deuter. Da sie ihre Delegationsmacht verloren haben,

   handeln die Bürger nicht mehr; sie werden lediglich zusammengerufen, um
   die Rolle des Volkes zu spielen. Daher ist das Volk nichts als eine
   theatralische Fiktion. Für ein gutes Beispiel des qualitativen
   Populismus bedürfen wir nicht länger der Piazza Venezia in [80]Rom oder
   des Nürnberger Parteitagsgeländes. In der Zukunft erwartet uns ein TV-
   oder Internet-Populismus, in dem die emotionale Reaktion einer
   ausgewählten Gruppe von Bürgern als Stimme des Volkes dargestellt und
   akzeptiert werden kann. Aufgrund seines qualitativen Populismus muß der
   Urfaschismus gegen "verrottete" parlamentarische Regierungen
   eingestellt sein. Wo immer ein Politiker die Legitimität eines
   Parlaments in Zweifel zieht, weil es den Willen des Volkes nicht mehr
   zum Ausdruck bringe, riecht es nach Urfaschismus.

   14. Der Urfaschismus spricht Newspeak. Orwell erfand in "1984" Newspeak
   als offizielle Sprache von Ingsoc, dem englischen Sozialismus. Aber
   Elemente des Urfaschismus sind verschiedenen Formen der Diktatur
   gemeinsam. Alle Nazi- oder faschistischen Schulbücher bedienten sich
   eines verarmten Vokabulars und einer elementaren Syntax, um die
   Instrumente komplexen und kritischen Denkens im Keim zu ersticken. Aber
   wir müssen uns auch auf andere Formen von Newspeak einstellen, selbst
   wenn sie in der scheinbar unschuldigen Form einer populären Talk-Show
   daherkommen.

   Am Morgen des 27. Juli 1943 erfuhr ich aus dem Radio, der Faschismus
   sei zusammengebrochen und Mussolini verhaftet. Als meine Mutter mich
   zum Zeitungholen schickte, entdeckte ich, daß die Zeitungen am nächsten
   Kiosk verschiedene Titel hatten. Mehr noch: Nachdem ich die
   Überschriften gelesen hatte, wurde mir klar, daß in jeder Zeitung etwas
   anderes stand. Ich entschied mich blind für eine und las auf der ersten
   Seite eine Erklärung, die von fünf oder sechs politischen Parteien
   unterzeichnet war - darunter die Democrazia Cristiana, die
   Kommunistische Partei, die Sozialistische Partei, der Partito d'Azione
   und die Liberale Partei. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich geglaubt, es
   gebe in jedem Land nur eine einzige Partei, und in Italien sei das der
   Partito Nazionale Fascista. Nun entdeckte ich, daß in meinem Lande
   mehrere Parteien nebeneinander existieren konnten. Da ich ein kluger
   Junge war, erkannte ich sofort, daß so viele Parteien nicht über Nacht
   aus dem Boden geschossen sein konnten, daß sie also schon seit einiger
   Zeit im Untergrund existiert haben mußten. Die Erklärung auf der
   Titelseite feierte das Ende der Diktatur und die Rückkehr der Freiheit:
   Freiheit der Rede, der Presse, der politischen Vereinigung. Diese
   Worte, "Freiheit", "Diktatur", "Rechte" - jetzt las ich sie zum ersten
   Mal in meinem Leben. Kraft dieser neuen Worte wurde ich neu geboren,
   als ein freier Mann des Westens. Wir müssen wachsam bleiben, damit der
   Sinn dieser Worte nicht wieder in Vergessenheit gerät. Der Urfaschismus
   ist immer noch um uns, manchmal sehr unscheinbar gewandet. Es wäre für
   uns so viel leichter, träte jemand vor und verkündete: "Ich will ein
   zweites Auschwitz, ich will, daß die Schwarzhemden wieder über Italiens
   Plätze paradieren." Das Leben ist nicht so einfach. Der Urfaschismus
   kann in der unschuldigsten Verkleidung wieder auftreten. Wir haben die
   Pflicht, ihn zu entlarven und jedes seiner neueren Beispiele kenntlich
   zu machen - an jedem Tag, an jedem Ort der Welt. Franklin Roosevelts
   Worte vom 4. November 1938 verdienen, nicht vergessen zu werden: "Ich
   wage zu behaupten, daß der Faschismus in unserem Lande an Kraft
   gewinnen wird, wenn die amerikanische Demokratie nicht als lebendige
   Kraft voranschreitet, um Tag und Nacht mit friedlichen Mitteln das
   Schicksal unserer Mitbürger zu verbessern." Freiheit und Befreiung sind
   eine niemals endende Aufgabe.

   1995 by Umberto Eco

   Aus dem Englischen von Meinhard Büning

   Umberto Eco, Inhaber eines Lehrstuhls für Semiotik an der Universität
   Bologna, ist seit seinem Roman "Der Name der Rose" nicht mehr nur einer
   der interessantesten Kunst- und Literaturtheoretiker, sondern auch
   einer der erfolgreichsten Bestsellerautoren. "Urfaschismus" ist der
   leicht gekürzte Text einer Vorlesung, die er am 24. April 1995 zum 50.
   Jahrestag der Befreiung Europas vom Nationalsozialismus an der New
   Yorker Columbia University gehalten hat. Es ist eine der seltenen
   umfangreichen politischen Äußerungen Ecos.


     * [83]Zweiter Weltkrieg,
     * [84]Italien,
     * [85]Europa,
     * [86]Demokratie,
     * [87]Faschismus,
     * [88]Rom


References

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