Von [73]Umberto Eco
7. Juli 1995 Quelle: DIE ZEIT, 28/1995
[74]Aus der ZEIT Nr. 28/1995
Urfaschismus – Seite 1
Im Jahre 1942, ich war gerade zehn Jahre alt, errang ich in meiner
Provinz den ersten Preis bei den Ludi Juveniles (einem erzwungen
freiwilligen Wettbewerb für junge italienische Faschisten - also für
jeden jungen Italiener). Ich hatte mit rhetorischem Geschick das Thema
behandelt: "Sollen wir sterben für den Ruhm Mussolinis und die ewige
Bestimmung Italiens?" Ich äußerte mich bejahend. Ich war ein heller
Junge.
Zwei Jahre lang beschossen sich um mich herum SS, Faschisten,
Republikaner und Partisanen, und ich lernte, den Kugeln aus dem Wege zu
gehen. Es war eine nützliche Übung. Im April 1945 übernahmen die
Partisanen in Mailand die Macht. Zwei Tage später kamen sie auch in die
kleine Stadt, in der ich damals lebte. Es war ein Moment
überschäumender Freude. Der große Platz war gefüllt mit singenden und
fahnenschwingenden Menschen, die laut nach Mimo riefen, dem
Partisanenführer unseres Gebiets. Mimo, ein ehemaliger Maresciallo der
Carabinieri, hatte sich den Anhängern General Badoglios angeschlossen,
des Nachfolgers Mussolinis, und bei einem der ersten Gefechte mit
Mussolinis verbliebenen Streitkräften hatte er ein Bein verloren. Mimo
trat auf den Balkon des Rathauses, bleich, auf seine Krücke gestützt,
und versuchte mit einer Hand, die Menge zur Ruhe zu bringen. Ich
erwartete eine Rede, denn meine gesamte Kindheit war von den großen
historischen Reden Mussolinis geprägt, deren wichtigste Passagen wir in
der Schule hatten auswendig lernen müssen. Stille. Mimo sprach mit
heiserer Stimme, kaum hörbar. Er sagte: "Bürger, Freunde. Nach so
vielen schmerzlichen Opfern . . . jetzt sind wir hier. Ruhm allen, die
für die Freiheit gefallen sind." Das war's. Er ging wieder hinein. Die
Menge jubelte, die Partisanen erhoben ihre Gewehre und schossen zur
Feier des Tages in die Luft. Wir Kinder beeilten uns, die Hülsen
aufzusammeln, sehr begehrte Dinge, aber zugleich hatte ich gelernt, daß
Redefreiheit auch Freiheit von Rhetorik bedeutet.
Einige Tage später sah ich die ersten amerikanischen Soldaten:
Afroamerikaner. Der erste Yankee, dem ich begegnete, war ein schwarzer
Mann, Joseph, der mich mit den Wundern von Dick Tracy und Li'l Abner
bekannt machte. Seine Comics hatten bunte Bilder und rochen gut. Einer
der Offiziere (Major oder Captain Muddy) war in der Villa einer Familie
zu Gast, deren zwei Töchter mit mir in die Schule gingen. Ich begegnete
ihm in ihrem Garten, wo einige Damen Captain Muddy umringten und in
stockendem Französisch auf ihn einredeten. Auch Captain Muddy konnte
ein bißchen Französisch. Mein erstes Bild von den amerikanischen
Befreiern war daher - nach so vielen Bleichgesichtern in Schwarzhemden
- der Anblick eines kultivierten schwarzen Mannes in einer olivgrünen
Uniform, der sagte: "Oui, merci beaucoup, Madame, moi aussi j'aime le
champagne . . ." Zwar gab es leider keinen Champagner, aber Captain
Muddy schenkte mir meinen ersten Streifen Wrigley's Spearmint, und ich
kaute den ganzen Tag. Nachts legte ich den Klumpen in ein Glas Wasser,
damit er auch am nächsten Tag noch frisch wäre.
Im Mai hörten wir, der Krieg sei vorbei. Der Friede vermittelte mir ein
eigenartiges Gefühl. Man hatte mir gesagt, Krieg ohne Ende sei für
einen jungen Italiener normal. In den nächsten Monaten entdeckte ich,
daß es die Resistenza nicht nur bei uns gegeben hatte, sondern in ganz
[75]Europa. Ich lernte neue, erregende Worte wie réseau, maquis, armée
secrète, Rote Kapelle, Warschauer Ghetto. Ich sah die ersten
Photographien vom Holocaust und begriff seine Bedeutung, bevor ich das
Wort zum ersten Mal hörte. Mir wurde klar, wovon man uns befreit hatte.
In meinem Lande fragen sich manche Menschen heute, ob die Resistenza
den Verlauf des Krieges militärisch denn wirklich beeinflußt habe. Für
meine Generation ist diese Frage völlig irrelevant: Die moralische und
psychologische Bedeutung der Resistenza verstanden wir sofort. Wir
empfanden Stolz in dem Wissen, daß wir Europäer nicht passiv auf die
Befreiung gewartet hatten. Und für die jungen Amerikaner, die mit ihrem
Blut für die Wiederherstellung unserer Freiheit zahlten, war es auch
nicht ohne Bedeutung, daß es jenseits der Gefechtslinien Europäer gab,
die ihre Schulden im voraus abzahlten. In meinem Lande sagen Menschen
heute, der Mythos der Resistenza sei eine kommunistische Lüge gewesen.
Es stimmt, daß die Kommunisten die Resistenza ausbeuteten, als sei sie
ihr persönliches Eigentum - sie hatten die größte Rolle in ihr
gespielt; aber ich erinnere mich an Partisanen mit verschiedenfarbigen
Armbinden.
Dicht ans Radio gedrückt, lauschte ich nachts - bei geschlossenen
Fenstern, in der Verdunkelung leuchtete einsam eine kleine Höhle um das
Gerät - den Botschaften, die die Voice of London für die Partisanen
ausstrahlte. Sie waren geheimnisvoll und poetisch zugleich ("Die Sonne
geht wieder auf", "Die Rosen werden blühen"), und die meisten waren
"messaggi per la Franchi". Jemand flüsterte mir zu, Franchi sei der
Führer des stärksten Untergrundnetzes in Nordwestitalien, ein Mann von
legendärer Tapferkeit. Franchi wurde mein Held. Franchi (sein
wirklicher Name war Edgardo Sogno) war ein Monarchist, so entschieden
antikommunistisch, daß er sich nach dem Krieg rechten Gruppen anschloß
und angeklagt wurde, er habe sich an der Vorbereitung eines
reaktionären Staatsstreiches beteiligt. Wen kümmert es? Sogno ist noch
immer der Traumheld meiner Kindheit. Die Befreiung war die gemeinsame
Tat von Menschen, die unter verschiedenen Fahnen kämpften.
In meinem Lande sagen einige Menschen heute, der Befreiungskrieg sei
eine tragische Zeit der Spaltung gewesen, und wir bedürften der
nationalen Versöhnung. Die Erinnerung an diese schrecklichen Jahre
müsse unterdrückt werden, refoulée, verdrängt. Aber aus Verdrängung
entstehen Neurosen. Versöhnung mag Mitleid bedeuten und Respekt für
alle, die aufrichtig ihren eigenen Krieg kämpften, aber Vergeben ist
nicht Vergessen. Ich könnte sogar Eichmann zugestehen, daß er allen
Ernstes an seine Mission glaubte, aber ich kann nicht sagen: "Also gut,
komm zurück, und tu es noch mal."
Urfaschismus – Seite 2
Wir müssen uns der Vergangenheit erinnern und entschieden bekunden, daß
"sie" keine Chance mehr bekommen dürfen. Aber wer sind "sie"? Wenn wir
uns der totalitären Regimes erinnern, die Europa vor dem [76]Zweiten
Weltkrieg beherrschten, liegt es nahe zu sagen, sie könnten unter
veränderten historischen Bedingungen wohl kaum wieder in der gleichen
Form auftreten. Wenn Mussolinis Faschismus sich auf die Idee eines
charismatischen Führers gründete, auf den Korporativismus, auf die
Utopie von Roms imperialer Bestimmung, auf einen imperialistischen
Willen zur Eroberung neuer Gebiete, auf einen übersteigerten
Nationalismus, auf das Ideal einer ganzen Nation in Schwarzhemden, auf
die Ablehnung der parlamentarischen Demokratie, auf den Antisemitismus
- dann kann ich leicht einräumen, daß die italienische Alleanza
Nazionale, hervorgegangen aus der faschi stischen Nachkriegspartei MSI
und mit Sicherheit eine Partei des rechten Flügels, derzeit nur sehr
wenig mit dem alten Faschismus zu tun hat. Und obwohl auch mich die
verschiedenen naziähnlichen Bewegungen hier und da in Europa
einschließlich Rußlands beunruhigen, werde ich ebensowenig glauben, daß
der Nazismus in seiner ursprünglichen Form als nationale Bewegung
wiederauferstehen könne. Dennoch: Politische Regimes können zwar
gestürzt, Ideologien kritisiert und abgelehnt werden - aber hinter
einem Regime und seiner Ideologie steht immer eine Art des Denkens und
Fühlens, eine Anhäufung kultureller Gewohnheiten, obskurer Instinkte
und unauslotbarer Triebe.
Sprachgewohnheiten bieten häufig wichtige Hinweise auf zugrundeliegende
Gefühle. Deshalb lohnt die Frage, warum nicht nur die Resistenza,
sondern auch der Zweite Weltkrieg überall ganz allgemein als Kampf
gegen den [77]Faschismus definiert wurde. Blickt man wieder einmal in
Hemingways "Wem die Stunde schlägt", so entdeckt man, daß Robert Jordan
seine Feinde mit den Faschisten identifiziert, selbst wenn er die
spanischen Falangisten im Sinn hat. Und Franklin Delano Roosevelt sieht
im "Sieg des amerikanischen Volkes und seiner Alliierten einen Sieg
über den Faschismus und das Erbe des Despotismus, den er vertritt".
Während des Zweiten Weltkriegs galten die Amerikaner, die im Spanischen
Bürgerkrieg gekämpft hatten, als "vorzeitige Antifaschisten" - soll
heißen, daß in den vierziger Jahren der Kampf gegen Hitler für jeden
guten Amerikaner eine moralische Pflicht war, aber der verfrühte Kampf
gegen Franco in den Dreißigern hatte einen unguten Beigeschmack, weil
er in erster Linie von Kommunisten und anderen Linken geführt wurde . .
. Warum benutzten amerikanische Radikale dreißig Jahre später einen
Ausdruck wie Faschistenschwein für Polizisten, die ihre
Rauchgewohnheiten mißbilligten? Warum sagten sie nicht:
Cagoulardschwein, Falangistenschwein, Ustaschaschwein, Quislingschwein,
Nazischwein?
"Mein Kampf" ist ein Manifest mit einem umfassenden politischen
Programm. Der Nazismus besaß eine Theorie des Rassismus und der
Überlegenheit der Arier, eine klare Vorstellung von entarteter Kunst,
eine Philosophie vom Willen zur
Macht und vom Übermenschen. Der Nazismus war entschieden antichristlich
und neuheidnisch, während Stalins Diamat (die offizielle Version des
sowjetischen Marxismus) offen materialistisch und atheistisch war.
Versteht man unter Totalitarismus ein Regime, das jeden Akt des
Individuums dem Staat und seiner Ideologie unterwirft, dann waren
sowohl der Nazismus wie der Stalinismus wirklich totalitäre Regimes.
Der italienische Faschismus war mit Sicherheit eine Diktatur, aber er
war nicht durchgehend totalitär - nicht weil er so milde gewesen wäre,
sondern eher aufgrund der philosophischen Schwäche seiner Ideologie. Im
Gegensatz zu einer weitverbreiteten Ansicht verfügte der Faschismus in
[78]Italien über keine besondere Philosophie. Den mit Mussolini
unterzeichneten Artikel "Faschismus" in der Encyclopedia Treccani hatte
Giovanni Gentile geschrieben oder weitgehend inspiriert, und er verriet
eine späthegelianische Vorstellung vom absoluten und ethischen Staat,
die Mussolini niemals vollständig bewußt wurde. Mussolini besaß
keinerlei Philosophie, sondern lediglich Rhetorik.
Zu Anfang war er ein militanter Atheist, später unterzeichnete er die
Lateranverträge und ließ die faschistischen Banner von Bischöfen
segnen. In seinen frühen antiklerikalen Jahren soll er nach einer
glaubwürdigen Legende Gott aufgefordert haben, er solle ihn auf der
Stelle niederstrecken, wenn er seine Existenz beweisen wolle. Später
berief sich Mussolini in seinen Reden ständig auf Gott und störte sich
nicht daran, wenn man ihn als den Mann der Vorsehung bezeichnete. Der
italienische Faschismus war die erste rechtsgerichtete Diktatur in
einem europäischen Land, und für alle späteren derartigen Bewegungen
bildete Mussolinis Regime eine Art Archetypus. Der italienische
Faschismus führte als erster eine militärische Liturgie ein, eine
Folklore, sogar eine Art, sich zu kleiden - mit ihren schwarzen Hemden
weit einflußreicher, als Armani, Benetton oder Versace jemals werden
sollten. Erst in den Dreißigern entstanden die faschistischen
Bewegungen überall, mit Mosley in Großbritannien, in Lettland, Estland,
Litauen, Polen, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Griechenland, Jugoslawien,
Spanien, Portugal, Norwegen und sogar in Südamerika.
Dennoch scheint mir die historische Priorität kein ausreichender Grund
für die Erklärung, warum das Wort Faschismus zu einer Synekdoche wurde,
zu einem Wort, das sich für unterschiedliche totalitäre Bewegungen
verwenden ließ. Der Grund ist nicht etwa, daß der Faschismus in sich,
sozusagen in seiner Quintessenz, sämtliche Elemente aller späteren
Formen des Totalitarismus enthielt. Im Gegenteil: Der Faschismus
verfügte über keinerlei Quintessenz. Der Faschismus war ein
verschwommener Totalitarismus, eine Collage aus verschiedenen
philosophischen und politischen Gedanken, ein Bienenkorb an
Widersprüchen. Kann man sich eine wirklich totalitäre Bewegung
vorstellen, die die Monarchie mit der Revolution hätte vereinen können,
die Königliche Armee mit Mussolinis persönlichen Milizen, Privilegien
für die Kirche mit einer staatlichen Erziehung, die Gewalt predigte,
absolute staatliche Kontrolle mit einem freien Markt?
Urfaschismus – Seite 3
Nehmen wir den Futurismus. Man könnte denken, er wäre als Beispiel
entarteter Kunst beurteilt worden, zusammen mit Expressionismus,
Kubismus und Surrealismus. Aber die frühen italienischen Futuristen
waren Nationalisten; aus ästhetischen Gründen befürworteten sie
Italiens Eintritt in den Ersten Weltkrieg; sie feierten
Geschwindigkeit, Gewalt und Risiko, und all das ließ sich anscheinend
irgendwie mit dem faschistischen Jugendkult vereinen. Während sich der
Faschismus mit dem römischen Imperium identifizierte und ländliche
Traditionen ausgrub, wurde Marinetti (der verkündete, ein Auto sei
schöner als die Nike von Samothrake, und der sogar dem Mondschein den
Garaus machen wollte) zum Mitglied der Italienischen Akademie ernannt,
die dem Mondschein mit größter Hochachtung begegnete.
Das bedeutete nicht, daß der italienische Faschismus tolerant war.
Gramsci wurde bis zu seinem Tode eingekerkert; die Oppositionsführer
Giacomo Matteotti und die Brüder Rosselli wurden ermordet; der
Pressefreiheit wurde ein Ende gemacht, die Gewerkschaften wurden
aufgelöst und politisch Andersdenkende auf entlegene Inseln verbannt.
Die Legislative verkam zu einer bloßen Fiktion; die Exekutive (die die
Rechtsprechung ebenso kontrollierte wie die Massenmedien) erließ
eigenständig neue Gesetze, darunter die Gesetze zur Rassereinheit (die
formale italienische Unterstützungsgeste für das, was später der
Holocaust wurde).
Es gab nur einen Nazismus. Das faschistische Spiel jedoch läßt sich
nach vielen Regeln spielen, und der Name des Spiels ändert sich dabei
nicht. Die Idee des Faschismus ist Wittgensteins Vorstellung von einem
Spiel nicht unähnlich. Ein Spiel kann ein Wettbewerb sein oder auch
nicht, es kann einen oder mehrere Menschen interessieren, es kann
besondere Fertigkeiten voraussetzen oder gar keine, Geld kann im Spiel
sein oder nicht. Spiele sind unterschiedliche Tätigkeiten, die nur eine
gewisse "Familienähnlichkeit" aufweisen, wie es Wittgenstein
ausdrückte.
Betrachten wir die folgende Reihe: 1 2 3 4 abc bcd cde def. Nehmen wir
an, in einer Reihe politischer Gruppen sei Gruppe eins gekennzeichnet
durch die Merkmale abc, Gruppe zwei durch die Merkmale bcd und so
weiter. Gruppe zwei ähnelt Gruppe eins, weil beiden zwei Merkmale
gemeinsam sind; aus den gleichen Gründen ähnelt Gruppe drei Gruppe zwei
und Gruppe vier Gruppe drei. Man beachte, daß Gruppe drei auch Gruppe
eins ähnlich ist (sie haben c gemein).
Den eigenartigsten Fall bildet Gruppe vier, die offensichtlich den
Gruppen drei und zwei ähnelt, mit Gruppe eins jedoch kein einziges
Merkmal teilt. Aber aufgrund der kontinuierlichen Reihung abnehmender
Ähnlichkeiten zwischen Gruppe eins und Gruppe vier bleibt durch eine
Art illusorischer Transitivität eine Familienähnlichkeit zwischen den
Gruppen vier und eins erhalten. Der Faschismus ließ sich als
Bezeichnung für die unterschiedlichsten Zwecke verwenden, weil ein
faschistisches Regime auch dann noch als faschistisch kenntlich bleibt,
wenn man ihm ein oder mehrere Merkmale nimmt.
Ziehen wir vom Faschismus den Imperialismus ab, so haben wir noch immer
Franco und Salazar. Nehmen wir den Kolonialismus fort, so bleibt uns
noch immer der Balkanfaschismus der Ustaschi. Fügen wir dem
italienischen Faschismus einen radikalen Antikapitalismus hinzu (der
auf Mussolini nie besonders reizvoll wirkte), dann haben wir Ezra
Pound. Geben wir einen Kult um keltische Mythologie und die Gralsmystik
hinzu (dem offiziellen Faschismus vollständig fremd), dann steht vor
uns einer der angesehensten faschistischen Gurus, Julius Evola. Aber
trotz dieser Verschwommenheit halte ich es für möglich, eine Liste von
Merkmalen aufzustellen, die typisch wären für das Gebilde, das ich als
Urfaschismus oder ewigen Faschismus bezeichnen möchte.
Diese Merkmale lassen sich nicht zu einem System organisieren; viele
von ihnen widersprechen einander und lassen sich außerdem auch anderen
Formen des Despotismus oder Fanatismus zuordnen. Aber jedes einzelne
von ihnen kann zum Kristallisationspunkt für den Faschismus werden.
Urfaschismus – Seite 4
1. Das erste Merkmal des Urfaschismus ist der Traditionskult.
Traditionalismus ist natürlich viel älter als der Faschismus. Er war
nicht nur typisch für das konterrevolutionäre katholische Denken nach
der Französischen Revolution, sondern entstand schon im hellenistischen
Synkretismus als Reaktion auf den griechischen Rationalismus der
Klassik. Synkretismus ist nicht nur, wie es im Wörterbuch heißt, "die
Vermischung verschiedener Religionen, Konfessionen oder philosophischer
Lehren". Eine jede der ursprünglichen Botschaften enthält einen
Splitter der Weisheit, und wenn sie auch unterschiedliche oder
unvereinbare Dinge verkünden mögen, so beziehen sie sich doch sämtlich
auf die gleiche ursprüngliche Wahrheit. Es kann daher keinen
Fortschritt der Erkenntnis geben. Die Wahrheit ist ein für allemal
verlautbart, und uns bleibt nur, ihre unverständliche Bedeutung zu
interpretieren.
Die Nazi-Gnosis nährte sich aus traditionalistischen, synkretistischen,
okkulten Elementen. Der einflußreichste Urheber der Theorien der neuen
italienischen Rechten, Julius Evola, verschmolz den Heiligen Gral mit
den Protokollen der Weisen von Zion, Alchemie mit dem Heiligen
Römischen Reich Deutscher Nation. Daß die italienische Rechte vor
kurzem ihren Kanon um Werke von De Maistre, Guenon und Gramsci
bereicherte, um ihre Offenheit zu demonstrieren, ist ein Beleg des
Synkretismus. Wenn man in amerikanischen Buchhandlungen in den Regalen
mit dem Etikett New Age herumstöbert, findet man dort sogar den
heiligen Augustin, der nach meiner Kenntnis kein Faschist war. Aber der
heilige Augustin in Verbindung mit Stonehenge - da springt uns ein
Symptom des Urfaschismus ins Auge.
2. Traditionalismus impliziert die Ablehnung der Moderne. Sowohl
Faschisten als auch Nazis verehrten die Technologie, während
traditionalistische Denker sie gewöhnlich als Negation traditioneller
geistiger Werte ablehnen. Aber obwohl der Nazismus auf seine
industriellen Leistungen stolz war, lag sein Modernismus nur an der
Oberfläche einer Ideologie, die sich auf Blut und Boden gründete. Die
Ablehnung der modernen Welt tarnte sich als Ablehnung kapitalistischer
Lebensweise, aber in erster Linie ging es um die Ablehnung des Geistes
von 1789. Die Aufklärung, das
Zeitalter der Vernunft, gilt als Beginn moderner Entartung. In diesem
Sinne läßt sich Urfaschismus als Traditionalismus definieren.
3. Irrationalismus ist auch abhängig vom Kult der Aktion um der Aktion
willen. Eine in sich schöne Aktion muß vor dem Denken erfolgen oder
ganz ohne Denken. Denken ist eine Form der Kastration. Daher wird
Kultur verdächtig, sobald sie mit kritischen Einstellungen
identifiziert wird. Mißtrauen gegenüber der Welt des Intellekts war
immer ein Symptom des Urfaschismus.
4. Kein synkretistischer Glaube kann analytischer Kritik widerstehen.
Der kritische Geist macht Unterscheidungen. In der modernen Kultur lobt
die Wissenschaft mangelnde Übereinstimmung als nützlich für die
Bereicherung des Wissens. Für den Urfaschismus ist fehlende
Übereinstimmung Verrat.
5. Zudem sind Meinungsverschiedenheiten ein Anzeichen der Vielfalt. Der
Urfaschismus wächst und sucht Unterstützung, indem er die natürliche
Angst vor Unterschieden ausbeutet und verschärft. Der erste Appell
einer faschistischen oder vorfaschistischen Bewegung richtet sich gegen
Eindringlinge. So ist der Urfaschismus qua Definition rassistisch.
Urfaschismus – Seite 5
6. Der Urfaschismus entstand aus individueller oder sozialer
Frustration. Deshalb gehörte zu den typischen Merkmalen des
historischen Faschismus der Appell an eine frustrierte Mittelklasse,
eine Klasse, die unter einer ökonomischen Krise oder der Empfindung
politischer Demütigung litt und sich vor dem Druck sozialer Gruppen von
unten fürchtete. In unserer Zeit, da die alten "Proletarier" zu
Kleinbürgern werden (und die Lumpenproletarier von der politischen
Szene weitgehend ausgeschlossen sind), wird der Faschismus von morgen
sein Publikum in dieser neuen Mehrheit finden.
7. Den Menschen, die sich einer ausgeprägten sozialen Identität beraubt
fühlen, spricht der Urfaschismus als einziges Privileg das häufigste
zu: im selben Land geboren zu sein. Dies ist der Ursprung des
Nationalismus. Außerdem bezieht eine Nation ihre Identität nur aus
ihren Feinden. Daher liegt an der Wurzel der urfaschistischen
Psychologie die Obsession einer Verschwörung, am besten einer
internationalen Verschwörung. Die Anhänger müssen sich belagert fühlen.
Am leichtesten läßt sich dieser Verschwörung mit einem Appell an den
Fremdenhaß begegnen.
8. Die Anhänger müssen sich vom offensichtlichen Reichtum und der Macht
ihrer Feinde gedemütigt fühlen. Als ich ein Junge war, lehrte man mich,
an die Engländer als das Volk mit den fünf Mahlzeiten zu denken. Sie
aßen häufiger als die armen, aber nüchternen Italiener. Juden sind
reich und helfen einander über ein geheimes Netz gegenseitiger
Unterstützung. Aber die Anhänger müssen auch überzeugt sein, daß sie
ihre Feinde besiegen können. Daher, durch ständige Verlagerung des
rhetorischen Brennpunkts, sind die Feinde gleichzeitig zu stark und zu
schwach. Faschistische Regierungen sind dazu verurteilt, Kriege zu
verlieren, weil sie konstitutiv unfähig sind, die Stärke des Feindes
richtig einzuschätzen.
9. Im Urfaschismus gibt es keinen Kampf ums Überleben - das Leben ist
nur um des Kampfes willen da. Pazifismus ist daher Kollaboration mit
dem Feind. Er ist schlecht, weil das Leben ein ständiger Kampf ist. Das
jedoch führt zu einem Armageddon-Komplex. Da die Feinde besiegt werden
müssen, ist auch eine Entscheidungsschlacht erforderlich, und danach
wird die Bewegung die Weltherrschaft antreten. Aber eine solche
"Endlösung" impliziert auch wieder eine Friedensära, ein neues Goldenes
Zeitalter, was dem Prinzip des ständigen Krieges widerspricht. Keinem
faschistischen Führer ist jemals die Lösung dieses Problems gelungen.
10. Elitedenken ist ein typischer Aspekt jeder reaktionären Ideologie,
insoweit sie im Grunde aristokratisch ist, und aristokratisches und
militaristisches Elitedenken hat eine grausame Verachtung des
Schwächeren im Gefolge. Der Urfaschismus kann nur ein allgemeines
Eliteempfinden vertreten. Jeder Bürger gehört dem besten Volke der Welt
an, die besten Bürger sind die Mitglieder der Partei, jeder Bürger kann
(oder sollte) der Partei beitreten. Aber ohne Plebejer keine Patrizier.
Der Führer weiß, daß seine Macht ihm nicht demokratisch übertragen,
sondern gewaltsam erobert wurde, und ihm ist ebenso klar, daß seine
Kraft in der Schwäche der Massen wurzelt; sie sind so schwach, daß sie
einen Führer brauchen und verdienen. Da die Gruppe hierarchisch
organisiert ist (dem militärischen Modell nachempfunden), verachtet
jeder Unterführer seine Untergebenen, und jeder von diesen verachtet
die ihm Untergebenen. Das verstärkt das massenhafte Elitebewußtsein.
11. In einer solchen Perspektive werden alle zum Heldentum erzogen. In
jeder Mythologie ist der Held ein außergewöhnliches Wesen, aber in der
urfaschistischen Ideologie ist Heldentum die Norm. Dieser Kult des
Heldentums hängt aufs engste mit dem Todeskult zusammen. Es war kein
Zufall, daß ein Motto der Falangisten lautete: "Viva la Muerte". In
nichtfaschistischen Gesellschaften gilt der Tod als eine unangenehme
Erscheinung, der man mit Würde begegnen soll; dem Gläubigen ist er der
schmerzhafte Weg zu jenseitigem Glück. Im Gegensatz dazu sucht der
urfaschistische Held den heroischen Tod als beste Belohnung für ein
heldisches Leben. Der urfaschistische Held erwartet den Tod mit
Ungeduld. In seiner Ungeduld schickt er allerdings gern andere in den
Tod.
12. Da sowohl endloser Krieg als auch Heroismus recht schwierige Spiele
sind, überträgt der Urfaschist seinen Willen zur Macht auf die
Sexualität. Hier liegt der Ursprung des machismo (zu dem
Frauenverachtung ebenso gehört wie gewalttätige Intoleranz gegenüber
ungewöhnlichen Sexualgewohnheiten, von der Keuschheit bis zur
Homosexualität). Da auch die Sexualität ein schwieriges Spiel ist,
neigt der Urfaschist zum Spiel mit Waffen - das wird zu einer
phallischen Ersatzübung.
Urfaschismus – Seite 6
13. Der Urfaschismus gründet sich auf einen selektiven Populismus,
einen sozusagen qualitativen Populismus. In einer [79]Demokratie haben
die Bürger individuelle Rechte, aber in ihrer Gesamtheit besitzen sie
politischen Einfluß nur unter einem quantitativen Gesichtspunkt - man
folgt den Entscheidungen der Mehrheit. Für den Urfaschismus jedoch
haben Individuen als Individuen keinerlei Rechte, das Volk dagegen wird
als eine Qualität begriffen, als monolithische Einheit, die den Willen
aller zum Ausdruck bringt. Da eine große Menschenmenge keinen
gemeinsamen Willen besitzen kann, präsentiert sich der Führer als
Deuter. Da sie ihre Delegationsmacht verloren haben,
handeln die Bürger nicht mehr; sie werden lediglich zusammengerufen, um
die Rolle des Volkes zu spielen. Daher ist das Volk nichts als eine
theatralische Fiktion. Für ein gutes Beispiel des qualitativen
Populismus bedürfen wir nicht länger der Piazza Venezia in [80]Rom oder
des Nürnberger Parteitagsgeländes. In der Zukunft erwartet uns ein TV-
oder Internet-Populismus, in dem die emotionale Reaktion einer
ausgewählten Gruppe von Bürgern als Stimme des Volkes dargestellt und
akzeptiert werden kann. Aufgrund seines qualitativen Populismus muß der
Urfaschismus gegen "verrottete" parlamentarische Regierungen
eingestellt sein. Wo immer ein Politiker die Legitimität eines
Parlaments in Zweifel zieht, weil es den Willen des Volkes nicht mehr
zum Ausdruck bringe, riecht es nach Urfaschismus.
14. Der Urfaschismus spricht Newspeak. Orwell erfand in "1984" Newspeak
als offizielle Sprache von Ingsoc, dem englischen Sozialismus. Aber
Elemente des Urfaschismus sind verschiedenen Formen der Diktatur
gemeinsam. Alle Nazi- oder faschistischen Schulbücher bedienten sich
eines verarmten Vokabulars und einer elementaren Syntax, um die
Instrumente komplexen und kritischen Denkens im Keim zu ersticken. Aber
wir müssen uns auch auf andere Formen von Newspeak einstellen, selbst
wenn sie in der scheinbar unschuldigen Form einer populären Talk-Show
daherkommen.
Am Morgen des 27. Juli 1943 erfuhr ich aus dem Radio, der Faschismus
sei zusammengebrochen und Mussolini verhaftet. Als meine Mutter mich
zum Zeitungholen schickte, entdeckte ich, daß die Zeitungen am nächsten
Kiosk verschiedene Titel hatten. Mehr noch: Nachdem ich die
Überschriften gelesen hatte, wurde mir klar, daß in jeder Zeitung etwas
anderes stand. Ich entschied mich blind für eine und las auf der ersten
Seite eine Erklärung, die von fünf oder sechs politischen Parteien
unterzeichnet war - darunter die Democrazia Cristiana, die
Kommunistische Partei, die Sozialistische Partei, der Partito d'Azione
und die Liberale Partei. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich geglaubt, es
gebe in jedem Land nur eine einzige Partei, und in Italien sei das der
Partito Nazionale Fascista. Nun entdeckte ich, daß in meinem Lande
mehrere Parteien nebeneinander existieren konnten. Da ich ein kluger
Junge war, erkannte ich sofort, daß so viele Parteien nicht über Nacht
aus dem Boden geschossen sein konnten, daß sie also schon seit einiger
Zeit im Untergrund existiert haben mußten. Die Erklärung auf der
Titelseite feierte das Ende der Diktatur und die Rückkehr der Freiheit:
Freiheit der Rede, der Presse, der politischen Vereinigung. Diese
Worte, "Freiheit", "Diktatur", "Rechte" - jetzt las ich sie zum ersten
Mal in meinem Leben. Kraft dieser neuen Worte wurde ich neu geboren,
als ein freier Mann des Westens. Wir müssen wachsam bleiben, damit der
Sinn dieser Worte nicht wieder in Vergessenheit gerät. Der Urfaschismus
ist immer noch um uns, manchmal sehr unscheinbar gewandet. Es wäre für
uns so viel leichter, träte jemand vor und verkündete: "Ich will ein
zweites Auschwitz, ich will, daß die Schwarzhemden wieder über Italiens
Plätze paradieren." Das Leben ist nicht so einfach. Der Urfaschismus
kann in der unschuldigsten Verkleidung wieder auftreten. Wir haben die
Pflicht, ihn zu entlarven und jedes seiner neueren Beispiele kenntlich
zu machen - an jedem Tag, an jedem Ort der Welt. Franklin Roosevelts
Worte vom 4. November 1938 verdienen, nicht vergessen zu werden: "Ich
wage zu behaupten, daß der Faschismus in unserem Lande an Kraft
gewinnen wird, wenn die amerikanische Demokratie nicht als lebendige
Kraft voranschreitet, um Tag und Nacht mit friedlichen Mitteln das
Schicksal unserer Mitbürger zu verbessern." Freiheit und Befreiung sind
eine niemals endende Aufgabe.
1995 by Umberto Eco
Aus dem Englischen von Meinhard Büning
Umberto Eco, Inhaber eines Lehrstuhls für Semiotik an der Universität
Bologna, ist seit seinem Roman "Der Name der Rose" nicht mehr nur einer
der interessantesten Kunst- und Literaturtheoretiker, sondern auch
einer der erfolgreichsten Bestsellerautoren. "Urfaschismus" ist der
leicht gekürzte Text einer Vorlesung, die er am 24. April 1995 zum 50.
Jahrestag der Befreiung Europas vom Nationalsozialismus an der New
Yorker Columbia University gehalten hat. Es ist eine der seltenen
umfangreichen politischen Äußerungen Ecos.
* [83]Zweiter Weltkrieg,
* [84]Italien,
* [85]Europa,
* [86]Demokratie,
* [87]Faschismus,
* [88]Rom
References
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3. https://www.zeit.de/1995/28/Urfaschismus/komplettansicht#main
8. https://www.zeit.de/1995/28/Urfaschismus/komplettansicht
16. https://www.academics.de/?wt_zmc=fix.int.aca.zeitde.homepage.acade.link.mehr_dropdown.x&utm_medium=fix&utm_source=zeitde_aca_int&utm_campaign=homepage&utm_content=acade_link_mehr_dropdown_x
52. https://deutsches-schulportal.de/
72. https://www.zeit.de/1995/28/Urfaschismus/komplettansicht#more-ressorts
73. https://www.zeit.de/autoren/E/Umberto_Eco/index.xml
76. https://www.zeit.de/thema/zweiter-weltkrieg
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79. https://www.zeit.de/thema/demokratie
80. https://www.zeit.de/thema/rom
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82. https://www.zeit.de/1995/28/Urfaschismus/komplettansicht?print
83. https://www.zeit.de/thema/zweiter-weltkrieg
84. https://www.zeit.de/thema/italien
85. https://www.zeit.de/thema/europa
86. https://www.zeit.de/thema/demokratie
87. https://www.zeit.de/thema/faschismus
88. https://www.zeit.de/thema/rom
89. https://www.zeit.de/index
90. https://www.zeit.de/archiv
91. https://www.zeit.de/1995/index
92. https://www.zeit.de/1995/28/index
97. https://www.zeit.de/1995/28/Urfaschismus/komplettansicht
111. https://www.zeit.de/1995/28/Urfaschismus/komplettansicht#bildrechte
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